Wie konnte es zum Völkermord in Ruanda kommen ?
Von: Beiderbeck www.koinae.de
Quelle: Hartmut Diessenbacher: "Die Kriege der Zukunft"
Das Buch erschien 1998 im Carl Hanser Verlag München.
ISBN-Nr. 3-446-19304-9
Hartmut Diessenbacher, um das klar
zu sagen, tritt nicht für eine Weltregierung ein. Sein Anliegen ist, zu zeigen, dass durch den enormen Anstieg der Bevölkerungszahlen in den Entwicklungsländern die Konflikte dramatisch
verschärft werden.
Diessenbacher zeigt, dass zwischen der wachsenden Zahl der Bürgerkriege, die oft zu einem Völkermordszenario werden, und der Überbevölkerung ein unmittelbarer Zusam-menhang besteht. Er weist auf
den demographischen Exponenten hin. Damit will er sagen, dass die Überbevölkerungsrate die bestehenden Konflikte und Katastrophen in exponentieller Weise verschlimmert, wenn erst einmal die
Überbevölkerung erreicht ist. Er führt sehr einleuchtend aus, wie die "Übervölkerungskrieger", das sind junge Männer, die keine Arbeit und keine Zukunftschancen haben, mit der Waffe in der Hand
ihre Lebenssituation mit Gewalt verbessern, und dadurch eine Spirale der Gewalt und des Mordens in Bewegung setzen.
Die Bevölkerungsexplosion in Ruanda
In der Zeit von 1930 bis 1993 stieg die Bevölkerungszahl Ruandas von 1,5 Millionen auf 7,5 Millionen. Bis 2014 wird sich voraussichtlich die Bevölkerungszahl auf 15 Millionen verdoppelt haben. Ruanda hat 26300 Quadratkilometer, das sind 37,3 % der Fläche Bayerns. Die Bevölkerungsdichte Ruandas ist 285 Menschen pro Quadratkilometer. In Bayern ist die Bevölkerungsdichte etwa 156 Menschen pro Quadratkilometer.
Ruanda leidet also an akuter Übervölkerung, zumal ein Teil der Fläche des Landes von Seen und Gebirgen besetzt ist.
Alle Versuche einer Geburtenkontrolle, die gegen den zähen Widerstand der katho-lischen Kirche durchgesetzt werden musste, scheiterten. Aber auch der Staat wollte die Geburtenkontrolle nicht wirklich. Er kassierte nur die vom Ausland für diesen Zweck bereitgestellten Mittel, tat aber in Wirklichkeit nichts. Auch die Bevölkerung wollte die Geburtenbeschränkung nicht. Da in Ruanda die Frauen nicht erbberechtigt sind und praktisch kein Eigentum besitzen können, ist ihre einzige Zukunftssicherung eine kinderreiche Familie. Der Gebrauch von Kondomen wird in Afrika oft mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Kondome mit Aids infiziert seinen (!).
Entwicklungshilfe für Ruanda:
Ruanda erhielt in den vergangenen 20 Jahren in jedem Jahr etwa 100 Millionen Euro Entwicklungshilfe. 21,5 % des Bruttosozialprodukts und 60 % der Staatsausgaben stammten aus der Entwicklungshilfe. Ruanda besitzt ein dichtes Netz gut ausgebauter Asphaltstraßen und wurde "die Schweiz Afrikas" genannt.
Die Verarmung Ruandas durch den freien Welthandel und die Währungsdisparitäten. Statt Nahrungsmitteln wurden Genussmittel angebaut und Lebensmittel von der Welthungerhilfe
importiert.
Das wichtigste Exportprodukt Ruandas war der Kaffee. Als 1987 die Weltmarktpreise für Kaffee drastisch fielen, blieb das Wirtschaftswachstum weit hinter dem Bevöl-kerungswachstum zurück.
Statt Kaffee baute man jetzt vermehrt die Bierbanane an. 80 % der Bierbananen-produktion würde zur Herstellung von Bier und Schnaps verwendet. Gleichzeitig wurden die Nahrungsmittel immer knapper, und der Hunger zog ins Land ein. 1989 forderte die Regierung Ruandas aus dem Ausland Nahrungsmittelhilfen an. Mit dem Sinken der Rohstoffpreise für Kaffee, Tee und Zinn auf dem Weltmarkt nahm die Staatsver-schuldung Ruandas zu, die Lebenshaltungskosten stiegen, die Jugendarbeitslosigkeit stieg dramatisch an.
Durch die Übervölkerung geraten die Menschen in eine gnadenlose Konkurrenzsituation
Um sich ernähren zu können, mussten die Bauern bisher ungenutztes Land unter den Pflug nehmen. Sie dehnten ihre Felder bis in die von Berg-Gorillas bewohnten National-parkgebiete aus. Die Fläche des Nationalparkes und die Zahl der Gorillas wurde halbiert. Die Zahl der Gorillas fiel von 450 auf 268. Gleichzeitig stieg die Bevölkerungszahl im und um den Nationalpark von 150 000 auf 620 000.
Es begann ein Kampf ums Dasein zwischen den Menschen, der sich zu einem Kampf ums Dasein zwischen Mensch und Gorilla ausweitete.
Man nahm Landflächen in Bearbeitung, die an steilen Hängen lagen. Die lockeren vulkanischen Böden wurden vom Wasser fortgeschwemmt.
Neben der Ausweitung der Ackerbaugebiete wurde der Boden auch intensiver genutzt. Hatte man früher nach einigen Ernten den Boden brachliegen lassen, damit er sich erholen konnte, so verzichtete
man jetzt einfach darauf. Das führte zwar zunächst zu mehr Erträgen, aber der Boden wurde ausgelaugt und auf lange Sicht gingen die Erträge zurück.
Dies konnte auch durch Düngung und veränderte Anbaumethoden nur teilweise aus-geglichen werden. Die Getreideerträge pro Hektar sind nur 25 % von den europäischen Erträgen.*1
Wie kann man dem Mangel entkommen ?
95 % der Menschen in Ruanda leben auf dem Land. Ihre Erwerbsquelle ist die Land-wirtschaft. Wenn diese nicht genug für alle produzieren kann, bedeutet dies: Hunger und Not.
In Ruanda gilt das Erbrecht der Realteilung. Die durchschnittliche Betriebsgröße liegt bei etwa 0,8 Hektar. Wenn ein Bauer vier Söhne hat, erbt jeder 0,2 Hektar. Schon 0,8 Hektar sind zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.
Den erbberechtigten Söhnen, die aber im Grunde nichts mehr erben, ist die bäuerliche Existenz unter den Füßen weggezogen. Industrielle Arbeitsplätze gibt es nicht. Ihre Zukunft ist hoffnungslos. Sie alle waren in einen existentiellen Kampf um fruchtbaren Ackerboden eingetreten, den die meisten verlieren mussten. So war jeder jedem zum Feind geworden.
In dieser Situation kamen nun die Tutsi-Rebellen und drohten, ihr verlorenes Land wieder in Besitz zu nehmen. Dies bedeutete für viele Hutu-Bauern die Vernichtung ihrer Existenz, was in einem Land ohne wirksame Sozialsysteme entweder Verlassen der Heimat (aber wohin ?) oder Verhungern bedeutete.
Vor diesem Hintergrund wird offenbar, dass die Massaker keineswegs so irrational waren, wie es auf dem ersten Blick scheint. Es erklärt auch, warum so viele Hutus von Hutus ermordet wurden. Es
erklärt teilweise auch, warum sich viele Tutsi den Hutu-Todesschwadronen anschlossen und über die eigenen Stammesgenossen herfielen. Die tiefsitzende Existenzangst ließ sie in jedem Nachbarn
einen Konkurrenten um das Land und um das tägliche Brot sehen. Diese Angstgefühle schlugen um in Aggression und machten sich Luft in einer Orgie des Tötens, wo jeder jeden tötete, weil jeder des
anderen Feind war. Man tötete, um die eigenen Haut zu retten, um zu plündern und zu rauben, um die eigenen Zukunft zu sichern und um sich in den Besitz des Landes der Nachbarn zu setzen.
Die Hauptbeteiligten waren die jungen Söhne, die ohne nennenswertes Erbe und ohne Zukunftsperspektive waren. Jedes Jahr kamen 50 000 bis 100 000 nichterbende Söhne hinzu, ganz zu schweigen von den Töchtern, die ebenfalls auf den Arbeitsmarkt dräng-ten. Ein gewaltiges Heer von Überzähligen, die niemand brauchte und deren Leben nichts wert zu sein schien. Die Massaker zeigten auch, dass man den Wert eines menschlichen Lebens sehr gering schätzte, dass man in einem gewissen Sinne sogar froh war, wenn es weniger Menschen gab.
Auf der anderen Seite gab es aber die Reichen und Mächtigen, deren Existenz gesichert war. Sie besaßen ausgedehnten Großgrundbesitz, der aber von Militär und Polizei geschützt und unantastbar war. An eine Landreform war nicht zu denken.
Die Reichen und Mächtigen mussten fürchten, dass sich die hoffnungslosen Bauernsöhne gegen sie erheben würden. Da war gerade recht, in den Tutsi einen Feind und Sünden-bock zu finden, und die
Aggression gegen die Tutsi zu lenken. Sie und ihr Land und ihr Besitz wurden das Opfer, das man dem Mob vorwarf.
Eine weitere Strategie der Herrschenden war es, den kräftigsten und tüchtigsten unter den hoffnungslosen Bauernsöhnen eine Existenz in der Armee zu geben. So hatte man sie unter Kontrolle; ihre Aufgabe war es jetzt, den Besitz der Mächtigen zu verteidigen. Ihr Lohn bestand darin, ein kleines Stück vom Reichtum zu bekommen. Die Armee wuchs von 1990 bis 1994 von 4000 auf 40 000 Mann. Sie wurden in Schnellkursen zu Soldaten ausgebildet. Diese Soldaten und paramilitärische Jugendgruppen waren diejenigen, die den Völkermord und die Plünderungen durchführten.
So wurden aus Bauern Soldaten, und aus Soldaten Mörder.
Mit einem Mal waren sie jemand, der reale Macht über Leben und Tod besaß. Sie lernten, dass die Gewalt die Lösung ihrer Probleme war, und dass die Gewalt ihnen die Befriedigung der materiellen,
sexuellen und emotionalen Bedürfnisse gab. Mit einem Mal waren sie nicht mehr die Überzähligen und All-zu-vielen, sondern diejenigen, denen das Land gehörte.
Um sie unter Kontrolle zu halten, musste die Regierung sie fortan mit Waffen und mit Sold versorgen.
Was an dem Beispiel Ruanda nur besonders deutlich wird, das gilt für einen große Teil Afrikas: Die überzähligen Bauernsöhne werden in Armeen gesteckt, wo sie den Besitz der Reichen verteidigen
und die Bevölkerung unter Kontrolle halten sollen. Im Interesse des eigenen Überlebens müssen die Regierungen immer mehr Geld in ihre Armeen und ihre Waffen stecken; es bleibt immer weniger Geld
für die Versorgung der Bevölkerung und die Entwicklung des Landes.
Eine Armee braucht Feinde; nur so hat sie überhaupt eine Existenzberechtigung. Da aber für die in Afrika herrschenden Regime oft für die eigene Bevölkerung der Feind ist, ist es logisch, dass die Armeen oft in Bürgerkriegen eingesetzt werden. Es ist auch viel leichter und einträglicher, gegen Zivilisten Krieg zu führen. Sie können sich nicht richtig wehren, und die Plünderung ihres Besitzes ist verlockend.
Thomas Hobbes Lehre vom "Krieg aller gegen alle"
Unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges (1641 - 1645) schrieb der schottische Philosoph Thomas Hobbes (1588 - 1679) in seinem "Leviathan":
"Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer
verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten. Sooft daher jemand ein etwas einträglicheres Stück Land besitzt, es
besät, bepflanzt und bebaut hat und sein Nachbar Lust bekommt, ihn anzugreifen, weil er nur den Widerstand dieses einen und sonst nichts zu befürchten hat, so muss er nur die freiwillige Beihilfe
anderer abwarten, um jenem nicht bloß die ganze Frucht seiner Arbeit, sondern auch Leben und Freiheit zu rauben: indes werden sie, sobald Stärkere über sie kommen, ein Gleiches erleiden
müssen.
Bei dieser großen Furcht, welche die Menschen allgemein gegeneinander hegen, können sie sich nicht besser sichern, als dadurch, dass einer dem andern zuvorkommt oder so lange fortfährt, durch List und Gewalt alle anderen zu unterwerfen, als noch andere da sind, vor denen er sich zu fürchten hat...
Wäre folglich keine Macht da, welche allen das Gleichgewicht halten könnte, so wäre das Leben der Menschen nebeneinander natürlich nicht bloß freudlos, sondern vielmehr auch höchst beschwerlich.
Aktuelle Ergänzung
von:
KOALITION FÜR EINEN INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF
- DEUTSCHES KOMITEE -
(CICC-DE)
Konstanz, den 30.11.1999
*1
Zwischenzeitlich wurde mit einer durch die Regierung beschlossenen Agrarreform begonnen, die zu einer Zusammenlegung der Anbauflächen führen und so eine Produktionssteigerung
herbei-führen soll (Vision 2020).
Das Land soll von einem nahezu reinen Agrarstaat zu einer "Dienstleistungsgesellschaft" um-funktioniert werden. Aus diesem Grund wird auch zunehmend Wert auf gute schulische Ausbildungen
gelegt.